Archivarin bei der Durchsicht von Unterlagen.

Bewertung

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Archive sind bildlich gesprochen die Gedächtnisse unserer Verwaltungen und unserer Gesellschaft und wie unser eigenes Gedächtnis können sie nicht alle jemals produzierten Informationen aufnehmen. Um das Wichtige zu bewahren und auffindbar halten zu können, müssen sie langfristig das Unwichtige „vergessen“. Denn die täglich entstehenden Mengen an Schriftstücken, Datensätzen, E-Mails, Karten, Ton- und Filmaufnahmen sind für die vollständige, dauerhafte Aufbewahrung viel zu groß, und ein großer Teil davon ist auch nur von zeitlich begrenzter Bedeutung. Wegwerfen ist daher eine der wichtigsten Aufgaben von Archivarinnen und Archivaren.

Welche elektronischen und analogen Unterlagen einer öffentlichen Verwaltung auf Dauer aufzubewahren sind und welche nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen oder in der Verwaltung festgelegten Aufbewahrungsfrist vernichtet werden können – und sollen –, welche Unterlagen also „archivwürdig“ sind, entscheidet in Hessen gemäß § 5 Abs. 1 Hessisches Archivgesetz (HArchivG) das für die jeweilige Verwaltung zuständige öffentliche Archiv im Benehmen mit der anbietenden Stelle.

Wilde Kassationen“ der Verwaltung sind dagegen nicht erlaubt: Die öffentlichen Stellen der Gemeinden und Landkreise dürfen nach § 4 Abs. 3 HArchivG – genau wie die öffentlichen Stellen des Landes – „Unterlagen nur vernichten oder Daten nur löschen, die das zuständige Archiv zur Vernichtung oder Löschung freigegeben hat."

Damit die Aussonderung, Anbietung und Übernahme geordnet stattfinden kann, sollte zugleich mit der Aussonderung unbedingt eine Anbietungsliste erstellt werden. Ein Muster für eine solche Liste finden Sie in unserer „Handreichung Bewertung“, die unten zum Download bereit steht.

Jede Bewertung ist Teil des Prozesses der Überlieferungsbildung und entscheidet darüber mit, welche Einzelheiten aus unserer Vergangenheit und Gegenwart später erinnert, erforscht und nachgewiesen werden können. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erfordert archivarsiches Fachwissen und wird daher oft als die "Königsdisziplin" des Archivwesens bezeichnet.

Für die Bewertung von Unterlagen sollten mehrere Aspekte berücksichtigt werden:

  1. Haben die Unterlagen einen dauerhaften rechtswahrenden Wert? Gibt es Rechtsvorschriften, die eine dauerhafte Aufbewahrung vorschreiben (z.B. Personenstands- und Meldeunterlagen)?
  2. Dokumentieren die Unterlagen ein besonderes oder ein besonders typisches Ereignis oder Handeln?
  3. Dokumentieren die Unterlagen den Aufbau oder das Funktionieren der (öffentlichen) Stelle, von der sie stammen?

Zugleich ist bei der Bewertung zu bedenken, dass gerade öffentliche Stellen in ihrem Verwaltungshandeln in vielfältiger Weise zusammenarbeiten, so dass Überlieferungen in der gleichen Sache oft an mehreren Stellen entstehen. Solche Mehrfachüberlieferungen erhöhen nicht den Informationswert über Geschichte und Gegenwart - sie kosten im Archiv letztlich nur Platz und damit Geld. Entscheidend für die Frage, ob Unterlagen archivwürdig sind, sollte es daher auch sein, ob eine Stelle bei der Wahrnehmung einer Aufgabe die Federführung hat, ob also bei dieser Stelle die vollständigste und informativste Überlieferung zu erwarten ist, oder ob die Stelle lediglich bei der Aufgabenerfüllung einer anderen Stelle mitwirkt.

Diese Frage stellt sich bei der Bewertung von Unterlagen verschiedener Fachbereiche bzw. Ämter der eigenen Verwaltung: Finden sich Baupläne einer Sporthalle in den Unterlagen des Sozialamtes, weil es sie z. B. für die Entscheidung über die Hallenbelegung angefordert hat, so sind diese Pläne in der Regel nicht archivwürdig. Sind sie dagegen beim Bauamt (der federführenden Stelle) vernichtet oder verloren, so können sie als Ersatzüberlieferung dienen und wären daher als archivwürdig einzustufen.

Die Frage der Archivwürdigkeit von Unterlagen stellt sich aber auch für Vorgänge, bei denen kommunale Stellen mit staatlichen oder anderen öffentlichen Stellen zusammengearbeitet haben: Ist von einer aussagekräftigeren Überlieferung bei einem anderen Bestandsbildner mit einem verlässlichen zuständigen Archiv auszugehen, so empfiehlt sich bei der Überlieferung der eigenen Verwaltung in der Regel eher die Bewertung der Unterlagen als nicht archivwürdig.

Die Entscheidung über die Archivwürdigkeit von Unterlagen muss und kann oftmals nicht für jede einzelne Akte getroffen werden, deren Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist. In vielen Fällen ist die Frage der Archivwürdigkeit von vornherein eindeutig. So sind Protokolle eines Gemeindevorstands oder einer Stadtverordnetenversammlung sowie Ausschussprotokolle, Melderegister und ein großer Teil der Unterlagen der Bauverwaltung ohne Zweifel archivwürdig. Gebühren- und Steuerbescheide, Sammlungen von Rechtsvorschriften sowie die oft umfangreichen Sammlungen von Amtsdrucksachen und Gesetzblättern von Bund und Land sind dagegen ebenso eindeutig nicht archivwürdig. Das gilt um so mehr, als sowohl der Staatsanzeiger für das Land Hessen als auch das Bundesgesetzblatt vollständig online zur Verfügung stehen.

Detaillierte Entscheidungen darüber, ob einzelne Aktenplangruppen generell archivwürdig oder nicht archivwürdig sind oder im Einzelfall bewertet werden müssen, sollten in einem Bewertungsmodell festgehalten werden. Bewertungsmodelle sind daneben besonders geeignet, die Übernahme einer Auswahl von massenhaft gleichförmigen Unterlagen zu dokumentieren und damit transparent zu machen. Einige Archive, vor allem im staatlichen Bereich, stellen ihre Bewertungsmodelle auch online zur Verfügung. Außerdem wurden von verschiedenen Stellen und Arbeitskreisen Handreichungen für die Bewertung kommunalen Schriftguts entwickelt. Sie können eine wertvolle Anregung sein, sollten aber keinesfalls unreflektiert für das eigene Archiv übernommen werden, da jede Kommune eigene Besonderheiten in der Schriftgutproduktion aufweist!